Aktuelles
Walter Brueggemann (1933-2025): Imagine!

Zum Tod von Walter Brueggemann, Martin Heißwolf
Walter Brueggemann war zweifellos einer der einflussreichsten Bibelausleger unserer Zeit. Er war Autor von über hundert Büchern und zahlreichen wissenschaftlichen Aufsätzen. Er wurde als Redner vielfach eingeladen.
Brueggemann wurde 1933 in Tilden, Nebraska, geboren. Er sprach oft vom Einfluss seines Vaters, eines deutschen evangelischen Pfarrers. Brueggemann besuchte das Elmhurst College und schloss dort 1955 mit einem A.B. ab. Anschließend studierte er am Eden Theological Seminary, wo er 1958 den B.D. (entspricht heute dem M.Div.) erhielt. Seine formale theologische Ausbildung beendete er 1961 am Union Theological Seminary mit dem Th.D. unter der Hauptleitung von James Muilenburg. Während seiner Lehrtätigkeit am Eden Theological Seminary erwarb er außerdem einen Ph.D. in Pädagogik an der St. Louis University.
In seiner Karriere war Brueggemann an zwei Institutionen als Dozent tätig: am Eden Theological Seminary (1961–1986) und am Columbia Theological Seminary (1986–2003).
Walter Brueggemann starb am 5.Juni 2025.
Es ist schlichtweg unmöglich, Walter Brueggemann in einem kurzen Beitrag umfassend zu würdigen. Als Missiologe greife ich den Leitartikel Missional Questions in a Fresh Contest im Sammelband Hope for the World: Mission in a Global Context (2001) des Campbell Seminar (2000) an der Columbia Theological Seminary heraus.
„Würdigen” heißt zuallererst „zu Wort kommen lassen“. Ich persönlich teile nicht alle seiner Aussagen, aber wer bin ich? Ich bin am Lernen. So sehr ich die ÖRK-Rezeption seines missiologischen Ansatzes überwiegend und entschieden ablehne, so sehr will ich doch von Walter Brueggemann und in der Auseinandersetzung mit ihm lernen. Er hat der evangelikalen Missionstheologie ein reiches Erbe hinterlassen.
Was mich besonders fasziniert ist seine Verpflichtung der Bibel gegenüber. Er war Missiologe als Bibelwissenschaftler. Ein Beispiel: Beim Fuller Forum Justice, Grace, and Law in the Mission of God am 16.7.2020 sagte Walter Brueggemann: „Der Gerechtigkeit um der Ordnung willen, von oben auferlegt, muss widersprochen werden durch eine transformative Gerechtigkeit, die von unten her entsteht. In Jeremia 22,16 findet sich diese eindringliche Aussage, in der Gott über Josia sagt, der sich für die Armen und Bedürftigen einsetzte: „Heißt das nicht, mich recht zu erkennen?“ Da steht nicht: Wenn du mich kennst, wirst du Gerechtigkeit üben. Da steht auch nicht: Wenn du Gerechtigkeit übst, wirst du mich kennenlernen. Sondern: Gerechtigkeit üben heißt, Gott erkennen.“
Hope for the World: Mission in a Global Context steht für einen neuen Entschluss und ein neues Engagement im globalen Kontext des Dienstes der Kirche. Mission, Evangelisation und theologische Ausbildung wirken zu oft unzureichend vorbereitet, um der Verzweiflung zu begegnen, die sowohl im Norden als auch im Süden der Welt weit verbreitet ist. Die älteren Formen des Dienstes, die immer noch unbewusst triumphalistisch geprägt sind, können mit der tief verwurzelten geistlichen Krise, die sich wirtschaftlich, politisch und militärisch in der Globalisierung des Reichtums zeigt, nicht umgehen. Die Essays in diesem Band, die die spezifischen Kontexte des Dienstes respektieren, geben als evangelikales Gegenmittel zur Verzweiflung Hoffnung. Die hier entwickelten Theologien der Hoffnung fordern, dass die Kirche eine Verletzlichkeit lebt, die von der Wahrheit des Kreuzes geprägt ist.
Nach einer ausführlichen Darstellung der Arbeit dieses Seminars führt Walter Brueggemann folgende gemeinsame Überzeugungen der Seminarteilnehmer an:
- Dass die weltweite Kirche in all ihren Teilen mit einem neuen Kontext für ihren Dienst und einer neuen Chance zur Mission konfrontiert ist – einem Kontext, der von einer Verzweiflung geprägt ist, die sowohl bei den „Habenden“ als auch bei den „Nicht-Habenden“ verbreitet ist, auch wenn der Mangel an Hoffnung unterschiedliche Gemeinschaften unter unterschiedlichen Umständen sehr verschieden betrifft und herausfordert.
- Dass diese neue Situation der Verzweiflung, die tief in einer geistlichen Krise verwurzelt ist, sich wirtschaftlich, politisch und militärisch in einer neuen Globalisierung des Reichtums zeigt – einer Globalisierung, die enorme Konzentrationen von Macht und Reichtum ermöglicht und in gleichem Maße zu massiven Mängeln und Entbehrungen führt.
- Dass die alten Muster europäischer und – in neuerer Zeit – US-amerikanischer Vorherrschaft in Staat, Wirtschaft und Kirche nach wie vor überall eine entscheidende Rolle dabei spielen, die gemeinsamen, wenn auch vielfältig ausgeprägten Kontexte der Verzweiflung zu erkennen und zu verstehen.
- Dass die alten Vorstellungen von „Mission“ zutiefst durch Herrschaftsideologien durchdrungen sind, sodass sich eine Übereinstimmung erkennen lässt zwischen älteren triumphalistischen Missionsverständnissen und neueren Formen der Globalisierung – von beiden geht ein dringender Ruf zur Umkehr und Befreiung aus.
- Dass Hoffnung als evangelikales Gegenmittel zur Verzweiflung nicht triumphalistisch gelebt werden kann, sondern ein kirchliches Bewusstsein für Verletzlichkeit erfordert – eine Verletzlichkeit, die von der Wahrheit des Kreuzes als kirchliches Kennzeichen geprägt ist.
- Dass der Pluralismus die Kirche (mit ihrer Erzählung der Hoffnung) in eine Position bringt, in der sie keinen absoluten, von vornherein triumphalistischen Anspruch erhebt; vielmehr ist der Kirche eine Offenheit anvertraut gegenüber Verbündeten in der Hoffnung – unter anderen Gläubigen ebenso wie unter Menschen guten Willens, die außerhalb jeder „Glaubensgemeinschaft“ stehen.
- Dass die Kirche – mit den bedeutenden Errungenschaften und bedauerlichen Verzerrungen der Christenheit – künftig ihre Mission des „Erzählens nach innen“ und des „Handelns nach außen“ mit gebotener Demut ausüben muss. Diese Demut gründet in einem Bewusstsein, das zwischen ihrer eigenen Mission als Gabe Gottes und der Mission Gottes unterscheidet – einer Mission, die nicht nur in und durch den Auftrag der Kirche geschieht, sondern auch vor, außerhalb und neben dem besten Gehorsam der Kirche – und sogar gegen die Kirche, wenn sie ungehorsam ist.
In der Reflexion dieser Grundüberzeugungen schreibt Walter Brüggemann: „Es ist aus jeder kritischen Reflexion offensichtlich, dass die alten missionarischen Annahmen und Praktiken weder glaubwürdig noch fruchtbar sind – aber der Weg nach vorn ist noch unklar. Die Realität des religiösen Pluralismus erfordert zudem eine Neufassung von Mission, die anerkennt, dass Gottes Mission weit über den Horizont der Kirche hinausreicht und dass folglich die Mission der Kirche weder absolutistisch noch triumphalistisch gedacht oder ausgeübt werden kann. Die Anerkennung des größeren Umfangs von Gottes Mission und die Annahme einer nicht-triumphalistischen Haltung in der kirchlichen Mission könnten die Kirche zudem dazu befreien, als hoffnungstragendes und hoffnungsspendendes dienendes Volk großzügig in der Welt zu wirken.“
An anderer Stelle diskutierte Walter Brueggemann diese Mentalitätsänderung der Kirche entlang der Begriffe „Exil“ und „Disapora“: „Der Unterschied besteht darin, dass das Thema ›Exil‹ die Erwartung einer Rückkehr nach Hause in die Normalität mit sich bringt. Im Gegensatz dazu ist ›Diaspora‹ eine Lebens- und Glaubenspraxis unter denen, die fern der Heimat sind, die sich in neuen Zusammenhängen niederlassen, die zur Heimat werden – ohne ernsthafte Erwartung einer ›Rückkehr nach Hause‹ oder einer Rückkehr zu einer alten Normalität. Diese Unterscheidung ist entscheidend für das kirchliche Handeln. ›Exil‹ könnte eine Hoffnung auf ›Wiederherstellung‹ dessen sein, wie die Kirche einst war, während ›Diaspora‹ das Eingeständnis ist, dass es keine Rückkehr nach Hause geben wird und auch keine Wiederherstellung einer alten Normalität.“
Quelle: Brueggemann, Walter: Forword, in: The Church in Exile: Living in Hope After Christendom (H. Lee Beach), 11-12, 2015.
Walter Brueggemann war leidenschaftlich hoffnungsvoll und von einer großen Vision beseelt: Imagine!
- … eine Gemeinde mit einer klar begrenzten, aber tief verinnerlichten Mission, die nicht den Anspruch hat, alleiniger Vertreter Gottes in der Nachbarschaft zu sein.
- … eine Gemeinde mit einer klaren Evangeliumsbotschaft, die aber offen ist für Verbündete und nicht das Bedürfnis hat, die einzige Stimme in der Gemeinschaft zu sein.
- … eine Gemeinde, durchdrungen von österlicher Hoffnung, die eine Alternative bietet zu Gemeinschaften der Angst, des Zorns und der Gier – eine Alternative, die in Verletzlichkeit und Großzügigkeit gelebt wird.
Quelle: Brueggemann, Walter: Missional Questions in a Fresh Contest, in: Hope for the World: Mission in a Global Context (Hg. Walter Brueggemann), 3-12, 2001.