Zur Auszeichnung von Bassam Tibi als „Vordenker 2019“
Zur Auszeichnung von Bassam Tibi als „Vordenker 2019“ – Ein Vordenker auch für evangelikale Christen
Am 22.November 2019 wurde an der Frankfurter Johann-Wolfgang-Goethe-Universität der deutsche Politologe syrischer Herkunft, Prof. Dr. Bassam Tibi, als „Vordenker 2019“ geehrt. Diese Auszeichnung wird seit zehn Jahren von dem „Vordenker Forum“ der Finanzberatungsgruppe Plansecur vergeben, die sich bewusst an christlichen Werten orientiert. (Siehe: https://www.presseportal.de/pm/16062/4447859; https://www.pro-medienmagazin.de/gesellschaft/menschen/2019/11/22/vordenker-oder-gar-prophet-bassam-tibi/)
In Bezug auf die Frage nach dem Verhältnis des politischen Islam zur gesellschaftlichen Integration in Europa ist niemand so sehr Vordenker gewesen wie Bassam Tibi. Niemand hat früher als er das Problem lautstark benannt sowie Lösungen vorgeschlagen und eingefordert. Schon Ende des 20. Jahrhunderts hat Tibi einen „Euro-Islam“ gefordert und gleich das Wort dazu geschaffen. Euro-Islam ist und bleibt „Islam“, jedoch einer, der sich nicht nur mit Demokratie, Menschenrechten und Gleichberechtigung arrangiert, sondern diese aus seiner tiefsten Überzeugung heraus begründet!
Die von Tibi geschaffenen Begriffe „europäische Leitkultur“ und „Euro-Islam“ sprechen nicht zufällig von Europa statt von Deutschland. Es geht nicht um eine deutsche Leitkultur oder einen deutschen Islam. Deutsche Denker und Denkerinnen haben sicher bei der Entwicklung der modernen Republik mit Gewaltenteilung und Rechtsstaatsgarantie eine zentrale Rolle gespielt, ebenso wie bei der Formulierung einer Ethik der Menschenrechte. Immanuel Kant sei dafür schlaglichtartig genannt. Aber für Kant ging es dabei nicht um deutsche, sondern um universale Werte.
Mit „Euro“ hat Tibi auch nie gemeint, es ginge um Werte, die nur Europa kenne oder die nur dort Gültigkeit hätten. Vielmehr macht für ihn die flächendeckende Akzeptanz dieser universalen Werte und ihre Verankerung in einem über die Staaten hinausgehenden Menschenrechtsschutz das Besondere an Europa aus.
Dabei geht es nicht um eine blinde Verliebtheit in Europa. Tibi hat sich immer gegen den Rassismus gewandt, den er zu Recht für eine europäische Erfindung hält. Er kritisiert eine rassistische Grundstimmung in Europa ebenso wie ein links-grünes, typisch europäisches Meinungskartell, das seinerseits allerorten rechtspopulistische Parteien nach oben spüle. Schon 2001 warnte Tibi, ein Europa als „Multi-Kulti-Sammelwohngebiet ohne eigene Identität“ drohe zu einem „Schauplatz für ethnische Konflikte und für religiös gefärbte, politisch-soziale Auseinandersetzungen zwischen Fundamentalismen“ zu werden.
Kaum jemand hat den real existierenden Islam durch die sozialwissenschaftliche Erforschung der Religion und ihrer Zivilisation so gründlich studiert wie Tibi. Feldforschung in 22 islamischen Ländern und 18 Gastprofessuren an Universitäten auf allen Kontinenten ermöglichen ihm einem weltweit wohl einmaligen Wissensfundus. Auf dieser Grundlage widerspricht Tibi der Deutung, der Islam sei eine politische Religion und weist nach, dass der politische Islam eine rein zeitgeschichtliche Erscheinung ist.
Es ist ja nicht so, dass bei irgendeiner Religion oder nichtreligiösen Weltanschauung die Friedlichkeit – entschuldigen Sie den Ausdruck – vom Himmel fällt. Sie muss begründet, errungen und an der Basis vermittelt werden.
Wer wie Tibi in Deutschland einen politischen Islam kritisiert, der der freiheitlich-demokratischen Grundordnung widerspricht, wird schnell der Islamophobie bezichtigt. Eine wehrhafte Demokratie – und als solche versteht sich Deutschland ja – muss aber derartigen Auffassungen entgegentreten, ganz gleich, auf welche Religion oder Weltanschauung sie sich berufen, und ganz gleich, ob sie im christlichen Gewand aus der Nähe oder im muslimischen Gewand aus der Ferne zu kommen scheinen.
Als stellvertretender Generalsekretär der Weltweiten Evangelischen Allianz will ich darum nicht alle Entwicklungen unter Evangelikalen schönreden. Zwar ist es diskriminierend, als Evangelikaler mit allem in einen Topf geworfen zu werden, was die Präsidenten in den USA und Brasilien tun. Dies gilt umso mehr, wenn dieselben Medien bei evangelikalen Staatslenkern, die Positives bewirken, deren Glaubenseinstellung einfach unter den Tisch fallen lassen – so im Fall der beiden neuen Premierminister von Papua Neuguinea oder Äthiopien – letzterer ist sogar Friedensnobelpreisträger! Trotzdem sind wir als Evangelikale aufgerufen, das, was unter uns schiefläuft, anzusprechen, zu kritisieren, von Grund auf zu ändern, aber niemals zu leugnen.
Es ist für die gegenwärtige Debatte lehrreich, sich in Erinnerung zu rufen, dass im Ersten Weltkrieg die großen christlichen Nationen im Namen des christlichen Gottes Krieg gegeneinander führten und ihre jeweiligen Staatskirchen die Völker der Gegner verteufelten. Noch in den 1920er Jahren hätte man nicht einfach sagen können, dass Christentum sei in der Breite friedlich oder habe die Religionsfreiheit auf seine Fahne geschrieben. Im Gegenteil war der Fundamentalismus in allen Konfessionen auf dem Vormarsch. Zusammenarbeit mit vermeintlich christlichen Diktatoren oder gar deren offene Unterstützung als Männer der Kirche war an der Tagesordnung. Franco wurde etwa als „Verteidiger des Glaubens“ hochstilisiert. Der christlich verbrämte Kolonialismus wollte die Kolonien nicht freigeben. Man träumte vom konfessionellen christlichen Staat und spannte den Staat selbstverständlich zur Verbreitung der eigenen Konfession ein. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg begann für das deutsche Christentum in seiner Breite der Weg zur Anerkennung von Demokratie und vor allem zur Aufnahme der Menschenrechte samt der Religionsfreiheit in die Grundlehren der Kirchen. Diese Überzeugungen obsiegten Mitte der 1960er Jahre in der theoretischen Lehre und bestimmten in den folgenden Jahrzehnten immer mehr die Realität des christlichen Lebens. Spätestens die Erarbeitung und Unterzeichnung des Dokuments „Christliches Zeugnis in einer multireligiösen Welt“ durch fast alle Kirchen macht deutlich, dass inzwischen ein christlicher Konsens darüber herrscht, dass es der christlichen Lehre und dem Geist Jesu Christi widerspricht, andere Menschen zum Glauben zu zwingen. Zugleich wird hier jede Art von Mission, die die Menschenrechte anderer nicht respektiert, verworfen.
Die gegenwärtigen Rückschläge in den USA oder Brasilien, in die leider ein Teil meiner eigenen Glaubensgemeinschaft, der Evangelikalen, verquickt ist, machen uns deutlich, dass diese positive Entwicklung im Christentum keineswegs ein Automatismus ist, sondern schnell wieder verlorengehen kann, wenn wir nicht aktiv gegensteuern.
Im Unterschied dazu haben leider Islam und Hinduismus in diesen Jahrzehnten eine gegensätzliche Entwicklung genommen. Für den Hinduismus gilt das, seit in jüngster Zeit in Indien ein Ministerpräsident herrscht, der dem Hindufundamentalismus anhängt (Hindutva’). Die Zunahme und geografische Ausbreitung islamistischer Gewalt vollzieht sich noch viel unmittelbarer vor unseren Augen. Mir geht es hier nicht um eine Verunglimpfung von Muslimen oder Hindus oder um pauschale Aussagen über Religionen, die deren zahlreiche Spielarten ignorieren. Immerhin sind friedliche Muslime und Hindus auch in großen Zahlen Opfer der gewaltbereiten Flügel ihrer Religionen.
Gerade angesichts dieser Entwicklungen ist dem Preiskomitee für die Auszeichnung Bassam Tibis zu danken. Es ist eine Schande, dass Tibi, der in unseren Nachbarländern mehrfach geehrt wurde, in Deutschland ausgegrenzt wurde. Ich danke dem Preiskomitee ausdrücklich, dass es den Mut hat, Tibi als deutschen Vordenker zu würdigen. Denn hier in Frankfurt hat Tibi deutschen Boden betreten, bei Horkheimer, Adorno und anderen studiert, bei Iring Fetscher 1971 promoviert. Und in Deutschland lebt Tibi trotz allem immer noch. Tibi hat sich in all seinem Forschen und Ringen, in all seinen Kämpfen für kein Land mehr eingesetzt, keinem Land mehr gedient, mit keinem Land mehr mitgelitten, als mit dem Land seiner Wahl, der Bundesrepublik Deutschland.
Prof. Dr. mult. Thomas Schirrmacher,
Stellvertretender Generalsekretär der Weltweiten Evangelischen Allianz (WEA)
Zuerst abgedruckt in em 4/2019